Samstag, 20. August 2011

"Der gewünschte Gesprächspartner ..."

Wenn dir jemand erzählt hat, er würde sich schnell Sorgen um andere machen, konntest du das nie so richtig verstehen. Wenn jemand nicht an sein Telefon geht, hast du gesagt, dann wird er es einfach vergessen haben. Oder nicht gehört haben. Nein, entgegnete man dir, ich denke dann immer, es sei etwas passiert. Du hast dich nicht darüber lustig gemacht - wie könnte man auch, bei solch einem Thema -, aber so richtig verstehen konntest du es nicht.
Und in irgendeiner Nacht bricht es dann über dich herein. Du drehst vollkommen durch. Weil jemand nicht an sein Telefon geht. "Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar" wird für dich zur Qual. Das ist viel schlimmer als das Freizeichen, denkst du, viel, viel schlimmer. Der Akku ist leer, sagt dein altes Ich. Geiselnahme, kreischt dein neues, Autounfall, Blut und Gefahr und Schmerzen und Angst und Blitz und Donner.
Du kommst dir schrecklich albern vor, natürlich. Du rufst ein paar Mal an, hörst dir die elektronische Stimme - einem Mantra gleich - an, atmest tief durch und drehst durch. Du willst nicht, aber du kannst nicht anders, du stellst dir Autos vor, die in der Luft herumwirbeln, Gliedmaßen, die abgetrennt werden. Du verbringst zu viel Zeit vor dem Fernseher, versucht dein altes Ich dich zu überzeugen.
Und du? Du kannst nicht mehr. Nicht schlafen, nicht denken. Du versuchst dich abzulenken, liest ein wenig und vergisst jedes zweite Worte. Du legst dich ins Bett und weinst plötzlich. Du weinst! Du kannst nicht mehr atmen, drehst dich von einer Seite auf die andere, weil du denkst, dass die Bilder in deinem Innern von der Position deines Körpers abhängen.
Das Schlimmste ist wahrscheinlich die Hilflosigkeit. Du kannst nichts tun, während du dich in der sicheren Gewissheit siehst, etwas tun zu müssen. Und was du machst, ist, dieses unentwirrbare Paradoxon dem Schlaf - deinem Einschlafen -, aufzubürden. Kein Wunder, dass du kein Auge zubekommst.
Das einzige, was du in solchen Momenten - in Momenten, in denen man Angst hat zu ersticken, wörtlich und metaphorisch, weil man diesen furchtbaren Kloß im Hals hat - machen kannst, was zumindest ein bisschen hilft, ist, zu beschreiben, was du fühlst. Deine körperlichen Reaktionen auf diesen Ausnahmezustand in eine objektiv nachvollziehbare Ordnung zu bringen. Dein linker Arm schläft ein, es pocht im Hüftbereich und in der Gegend um dein rechtes Handgelenk, dir ist kalt. Du brauchst in solchen Momenten etwas, das fassbar ist, Tatsachen.
Nichts wird dadurch besser und auch deine Angst, deine Unruhe werden bleiben, aber du wirst wieder atmen können. Und irgendwann einschlafen - vielleicht aus Erschöpfung, aber das reicht für den Moment, für die Nacht, für deinen Seelenfrieden.
Und am nächsten Morgen, wenn es dann noch immer nicht besser ist, wenn es weiterhin "Der gewünschte Gesprächspartner" in dein Ohr plärrt und du den Kloß nicht aus deinem Hals bekommst, wenn du dich einfach nicht halten kannst und "Ich weiß, dass es albern ist, aber ..." sagen musst. Und hören willst: "Da ist alles in Ordnung." Und es hörst. Das ist gut, irgendwie erleichternd. Du fragst in kindisch erstickter Stimme: "Versprochen?" Und das Nicken, das du als Antwort bekommst, ist ein Stückchen Erlösung.
Es ist noch immer unerträglich und du kannst dich auf nichts anderes konzentrieren. Schlimmer noch - dir fallen all die Menschen ein, die dir wichtig sind, und um die du dir Sorgen machst - erst jetzt merkst du es, wieso nicht früher? Du hast Angst, wenn sie zu spät nach Hause kommen, wenn sie Tabletten nehmen und sich gelegentlich irgendwo festhalten müssen, wenn ihre Hände zittern oder sie einfach nur nicht an ihr Telefon gehen. "Der gewünschte ..."
Und dann - ist es vorbei. Du wirst erlöst. An die unpersönliche Ansagestimme tritt die des Menschen, den du in der Nacht zuvor hören wolltest. Du bist so erleichtert, dass du selbst die Erleichterung vergisst. Du sagst Hallo und fragst, ob alles klar ist, wie es so geht und was es neues gibt. Du sagst nicht: Ich bin fast gestorben vor Sorgen. Du sagst nicht: Ich habe im Internet nach Unfällen gesucht. Du sagst nicht: Bitte mach das nie wieder. Du bist allein damit. Und wahrscheinlich wirst du es auch bleiben.
Du kommst dir nur ein wenig albern vor. Aber nicht genug, um deine Sorgen zu vergessen. Du gelobst bloß, es diesem Menschen nie, nie, niemals zu erzählen. Das hat nichts mit Geheimniskrämerei zu tun, das weißt du genau. Du hast bloß Angst, dieses Wissen, diese Erkenntnis, wie unheimlich wichtig er dir ist, zu teilen. Du hast Angst, vor diesem Wissen in seinen Augen zusammenzubrechen.

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